Die Geschichte zweier Dreiecke: Heron-Dreiecke und Elliptische Kurven

Autor: William McCallum (University of Arizona)

Übersetzt von Anna Muff und Hans-Georg Weigand (Universität Würzburg)

Wenn zwei Dreiecke denselben Flächeninhalt und denselben Umfang haben, sind sie dann notwendigerweise kongruent? Wie sich herausstellt ist die Antwort nein. Ein Dreieck mit den Seitenlängen 3, 4 und 5 hat beispielsweise denselben Flächeninhalt und Umfang wie ein Dreieck mit den Seitenlängen 41/15, 101/21 und 156/35.

Der Umfang beider Dreiecke ist 12:

    \begin{displaymath} 3 + 4 + 5 =12, \quad \hbox{und} \quad \frac{41}{15} + \frac{101}{21} + \frac{156}{35} = \frac{287 + 505 + 468}{105} = \frac{1260}{105} = 12. \end{displaymath}

Erstaunlicherweise haben diese beiden Dreiecke auch denselben Flächeninhalt. Das rechtwinklige Dreieck hat den Flächeninhalt \frac{1}{2} 4 \cdot 3 = 6.
Um den Flächeninhalt des anderen Dreiecks zu berechnen benutzen wir den Satz des Heron, der aussagt, dass der Flächeninhalt A eines Dreiecks mit den Seiten a, b und c gegeben ist durch

    \begin{eqnarray*} A &=& \frac{1}{4}\sqrt{(a+b+c)(-a+b+c)(a-b+c)(a+b-c)}\\ &=& \sqrt{s(s-a)(s-b)(s-c)}, \end{eqnarray*}

wobei s = \frac12(a+b+c) den halben Umfang des Dreiecks angibt. Durch eine kurze Rechnung, die diese Formel benutzt, zeigt sich, dass der Flächeninhalt des zweiten Dreiecks auch 6 ist.

Der Raum der Dreiecke

Wie kann man solche Beispiele finden? Das Geheimnis liegt darin, den richtigen Weg zu finden, alle Dreiecke darzustellen. Dafür gibt es viele Möglichkeiten. Eine davon ist es, ein Dreieck durch das Tripel (a,b,c) anzugeben, das aus einer Anordnung der Seitenlängen besteht. Auf diese Weise stellt man ein Dreieck als einen Punkt im R^3 dar. Nicht jeder Punkt entspricht einem Dreieck; es müssen zum Beispiel alle Koordinaten positiv sein. Gibt es noch andere Einschränkungen?

Koordinaten können auch auf andere Weise im Raum der Dreiecke dargestellt werden, nämlich indem man anstelle von Längen Winkel benutzt. Jedes Dreieck hat einen Inkreis und der Radius dieses Kreises steht in einfacher Relation zum Flächeninhalt A und zum halbem Umfang s, nämlich

    \[A = rs.\]

Um zu sehen, warum das gilt, fällt man Lote vom Kreismittelpunkt auf die Seiten des Dreiecks, wie in der linken Figur in Abbildung 2. Diese Lote bilden die Höhen von drei kleineren Dreiecken mit dem Lotfußpunkt auf den jeweiligen Seiten des großen Dreiecks und einer Ecke am Mittelpunkt des Inkreises. Durch Addition der Flächeninhalte dieser Dreiecke erhält man A=rs.

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Abbildung 2: Parametrisierung des Raums der Dreiecke

Diese Gleichung gibt an, dass auch die Radien der Inkreise gleich sind, wenn zwei Dreiecke denselben Flächeninhalt und Umfang haben. Wenn man also nach zwei solchen Dreiecken sucht, wird man sie unter allen Dreiecken finden, die um einen festen Inkreis liegen. Anstatt für die Beschreibung dieser Dreiecke Längenangaben zu benutzen, wählt man die Winkel, die, wie im rechten Dreieck in Abbildung 2, am Inkreismittelpunkt liegen.

Parametrisierung von Dreiecken mit konstantem Flächeninhalt und Umfang

Im Raum der Dreiecke finden sich Kurven, die einer ganzen Familie von Dreiecken mit denselben Werten A und s entsprechen.

Zunächst wird s durch die Winkel \alpha, \beta und \gamma und durch r, den Radius des Inkreises, folgendermaßen ausgedrückt: Die Radien und die Strecken von den Eckpunkten zum Inkreismittelpunkt teilen das Dreieck in sechs rechtwinklige Dreiecke. Da die Strecken von den Ecken zum Mittelpunkt die Winkel des großen Dreiecks halbieren, treten die rechtwinkligen Dreiecke in kongruenten Paaren auf. Durch die Grundseitenlänge je eines Paares und Addition dieser erhält man

    \[s=r (\tan \frac{\alpha}{2} + \tan \frac{\beta}{2} + \tan \frac{\gamma}{2}).\]

Diese Gleichung gibt zusammen mit A = rs an, wenn der Flächeninhalt A und der halbe Umfang s konstant sind, dass für die Summe der Tangenten gilt:

(1)   \begin{equation*} \tan \frac{\alpha}{2} + \tan \frac{\beta}{2} + \tan \frac{\gamma}{2} = \frac{s^2}{A}. \end{equation*}

Als nächstes wird dies in eine Gleichung übersetzt, die eine Kurve in der Ebene beschreibt. Es werden x = \tan (\alpha/2), y = \tan(\beta/2) und z = \tan(\gamma/2) gesetzt. Da \alpha+\beta+\gamma = 2\pi ergibt, ist

    \begin{equation*} \frac{\gamma}{2} = {\pi} - \frac{\alpha}{2} - \frac{\beta}{2}, \end{equation*}

, also

    \begin{equation*} z = \tan \left( \frac{\gamma}{2} \right)= \tan\left({\pi} - \frac{\alpha}{2} - \frac{\beta}{2}\right) = - \tan\left(\frac{\alpha}{2} + \frac{\beta}{2}\right) = - \frac{x + y}{1-xy}. \end{equation*}

Gleichung (1) wird für ein festes k, wenn k die Konstante s^2/A ist, zur Gleichung

(2)   \begin{equation*} x + y - \frac{x + y}{1-xy} = k \, . \end{equation*}

Diese ergibt umgestellt

(3)   \begin{equation*} x^2y+xy^2 = kxy - k. \end{equation*}

Jedes Dreieck mit Flächeninhalt A und halbem Umfang s gibt einen Punkt auf dieser Kurve an, und jeder Punkt auf der Kurve in einem bestimmten Bereich der Ebene entspricht einem Dreieck. Der Bereich entspricht den Winkeln, wie Abbildung 2 zeigt, die \alpha + \beta + \gamma = 2\pi und 0 < \alpha, \beta, \gamma < \pi erfüllen, was dem Bereich x > 0, y > 0 und xy > 1 (da z > 0) entspricht.

Die folgende Abbildung zeigt diese Kurve für k=6, den Wert, der dem Dreieck mit den Seitenlängen 3, 4 und 5 entspricht. Jeder Punkt auf dem Graphen im positiven Quadranten entspricht einem Dreieck; die Seitenlängen des Dreiecks sind a = x+ y, b = y + z und c = z + x. Im Speziellen entsprechen die Punkte (1,2), (2,1), (2, 3), (3, 2), (1, 3) und (3, 1) alle dem Dreieck mit den Seitenlängen 3, 4 und 5, jeweils mit den Seitenlängen in verschiedener Reihenfolge.

Diese Abbildung ist interaktiv: Probieren Sie aus, was für andere Punkte auf der Kurve oder andere Werte für Flächeninhalt und Umfang passiert!

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Punkte auf der Kurve finden

Abbildung 3: Kurve, die Dreiecke mit Umfang 12 und Flächeninhalt 6 parametrisiert.

Da die Kurve in Abbildung 3 durch eine Gleichung dritten Grades definiert ist, kann man durch das Tangenten- und Sekantenverfahren Punkte finden. Zwei Punkte auf der Kurve geben eine Sekante an, die die Kurve in einem weiteren Punkt schneidet; diesen Punkt zu finden führt zur Lösung einer kubischen Gleichung in x, von der bereits zwei Nullstellen bekannt sind. Da man schon sechs Punkte auf der Kurve hat, gibt es viele Möglichkeiten für Sekanten. Das Errechnen von mehr Punkten schafft noch mehr Möglichkeiten. Tatsächlich hat die Kurve unendlich viele Punkte mit rationalen Koordinaten. Die Vorgehensweise mit zwei Sekanten, wie in Abbildung 3, führt zum Punkt (54/35, 25/21) (durch einen Kreis gekennzeichnet), der dem Dreieck mit den Seiten 41/15, 101/21 und 156/35 entspricht.

Das Sekantenverfahren gelingt für jede kubische Kurve in der Ebene; solche Kurven nennt man elliptische Kurven (nicht weil sie selbst Ellipsen sind, sondern weil sie im Forschungsgebiet gewisser komplexer Funktionsklassen, die elliptische Funktionen genannt werden, auftreten). Das Sekantenverfahren erlaubt die Definition einer Gruppenstruktur auf rationalen Punkten auf einer elliptischen Kurve (das bedeutet Punkte, deren Koordinaten rationale Zahlen sind). Das Studium elliptischer Kurven ist ein zentrales Gebiet in der Zahlentheorie mit Anwendung in Verschlüsselungsprogrammen für sichere Finanztransaktionen im Internet. Elliptische Kurven spielten im Beweis des Großen Fermatschen Satzes eine zentrale Rolle.

Die Geschichte, die in diesem Artikel beschrieben ist, zeigt die bemerkenswerte Geschlossenheit der Mathematik, wie sie am Gymnasium beginnt, bis hin zur Forschung. Auf dem Weg sind wir auf eine fundamentale Idee der modernen Mathematik gestoßen: die Idee, ein Problem mithilfe einer bestimmten Art von Objekt (beispielsweise Dreiecke mit Flächeninhalt 6 und Umfang 12) zu lösen, indem man das Objekt in einen allgemeineren Raum überträgt (den Raum aller Dreiecke) und den richtigen Weg findet, diesen Raum zu parametrisieren.

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